Durch die Entdeckung und das vertiefte Verständnis der sogenannten „Genscheren“ CRISPR/Cas9 rücken Eingriffe in das Genom zukünftiger Menschen in greifbare Nähe und erfordern mit neuer Dringlichkeit die Beantwortung einer fundamentalen politiktheoretischen Frage: Können Eingriffe in die genetische Ausstattung zukünftiger Menschen im Namen der Gerechtigkeit erlaubt oder gar geboten sein? Rawls’sche Theorieelemente haben in der Debatte um Keimbahneingriffe – trotz Rawls’ vergleichsweise spärlicher…
Read moreDurch die Entdeckung und das vertiefte Verständnis der sogenannten „Genscheren“ CRISPR/Cas9 rücken Eingriffe in das Genom zukünftiger Menschen in greifbare Nähe und erfordern mit neuer Dringlichkeit die Beantwortung einer fundamentalen politiktheoretischen Frage: Können Eingriffe in die genetische Ausstattung zukünftiger Menschen im Namen der Gerechtigkeit erlaubt oder gar geboten sein? Rawls’sche Theorieelemente haben in der Debatte um Keimbahneingriffe – trotz Rawls’ vergleichsweise spärlicher eigener Bemerkungen zu eugenischen Fragen – erstaunliche Prominenz entfaltet. Unter Rekurs auf die Rawls’sche Theorie der Grundgüter wird in der Debatte argumentiert, dass Eingriffe im Namen der Chancengleichheit geboten sind und/oder keine Einschränkung der Freiheiten zukünftiger Personen vorliegt, sofern nur sogenannte „genetische Grundgüter“ nicht minimiert oder vermehrt werden. Ich argumentiere für die These, dass diese Argumente einer „liberalen Eugenik“ auf einer verkürzten Rezeption der Rawls’schen Grundgütertheorie basieren. Rawls selbst sah sich nach seiner Veröffentlichung der Theorie der Gerechtigkeit dazu veranlasst, Missverständnisse in Bezug auf seine Grundgütertheorie auszuräumen, und konzedierte, dass seine Darstellung in der Theorie möglicherweise missverständlich gewesen sei. Eine Rekonstruktion der komplexen Theorie der Grundgüter, wie sie in der Theorie angelegt ist, und später von Rawls weiterentwickelt wurde, kann daher die brandaktuelle Debatte um Keimbahneingriffe informieren, indem sie erstens zeigt, dass die gängigen Argumente für Eingriffe sich nicht in der üblichen Form auf Rawls’ Grundgütertheorie stützen können und zweitens Möglichkeiten aufzeigt, mit Rawls ein Argument gegen eine weitgehende Freigabe von Keimbahneingriffen zu formulieren, das die Begründungspflicht wieder zulasten interventionistischer Positionen verschiebt. Meinem Aufsatz liegt folgende Struktur zugrunde: Zuerst rekonstruiere ich zwei Hauptargumente „liberaler Eugenik“ und zeige, dass und wie beide Argumente auf die Rawls’sche Idee der Grundgüter zurückgreifen und breite Verwendung in der bioethischen Debatte gefunden haben (1). In einem zweiten Schritt skizziere ich eine komplexere Version von Rawls’ Grundgütertheorie, die bereits in der Theorie der Gerechtigkeit angelegt ist, aber auch für spätere Schriften wichtig bleibt (2). Danach zeige ich, dass sich die Argumente der „liberalen Eugenik“ nicht auf diese komplexere Version der Theorie der Grundgüter stützen können und dass sich mithilfe der komplexen Theorie der Grundgüter sogar ein Argument gegen eine umfassende Freigabe von Keimbahneingriffen formulieren lässt, das die Begründungspflicht für interventionistische Positionen vergrößert (3). Ich schließe mit einem kurzen Fazit zur Relevanz von Rawls’ Theorie im biotechnischen Zeitalter (4).